Die Lage des Schwerpunktes ist von großer Wichtigkeit beim Stehen und Gehen. Die Höhe des Schwerpunktes des ganzen Körpers bestimmte schon Borelli durch das Aequilibriren des auf ein Brett gelegten Körpers auf einer wagrechten Kante (Fig. 154). Ed. Weber verschob, nachdem der Schwerpunkt des Brettes bestimmt war, die Versuchsperson so lang auf dem Brett, bis Gleichgewicht hergestellt war. Der Schwerpunkt liegt in der Senkrechten sw, die durch das Promontorium geht. Durch ein ähnliches Verfahren wurde am Leichnam , nach ausgeschälten Beinen , die Höhe des Rumpfschwerpunkts bestimmt; derselbe fällt in eine durch das untere Ende des Brustbeines oder durch den Schwertfortsaz gegen die Wirbelsäule gezogene Ebene (sie heiße a Ebene); der Rumpfschwerpunkt liegt somit hoch über der gemeinschaftlichen Drehungsaxe der Schenkelköpfe. Nimmt man nun an, das beim aufrechten (militärischen, s. 503) Stehen der Rumpf auf beiden Schenkelköpfen balancirt. so muss der Rumpfschwerpunkt (nahe) in derjenigen Ebene (b Ebene) liegen, die senkrecht durch die Centren beider Schenkelköpfe geht; diesen Centren entspricht der vordere Rand der großen Trochanteren. Die b Ebene wird näherungsweise bestimmt, wenn man neben einem Aufrechtstehenden beiderseits zwei Bleilothe aufhängt in der senkrechten Ebene, in der die beiden gennanten Trochanterränder liegen. Diese b Ebene durchschneidet die Zizenfortsäze der Schläfenbeine. Zieht man in b Ebene eine Senkrechte, von welcher die symmetrischen Theile des Körpers links und rechts gleich weit abstehen, so trifft diese Senkrechte die a Ebene in einem Punkt: dem Schwerpunkt des Rumpfes. Dieser läge somit zwischen Schwertfortsaz und 8. Brustwirbel, etwa 5 Centimeter von lezterem entfernt (Ed. Weber).
Beim Stehen handelt es sich
vor Allem um Festigkeit (möglichst geringe Körperschwankungen),
Ausdauer und Bequemlichkeit der Stellung. Diejenigen unter den
sehr mannigfaltigen Steharten sind die zweckmäßigeren,
welche. diese Aufgaben am besten erfüllen. Die Grundbedingung
des Tragens der Körperlast durch das Bein ist Umwandlung
desselben in eine steife Stüze, wobei zugleich der Schwerpunkt
des Körpers annähernd senkrecht über dem Fußgelenk
liegt. Die Steifung ist in zweierlei Weise herstellbar:
1) Die beweglichen Abtheilungen
des Beines werden durch Muskelthätigkeit steif gehalten,
wobei dieselben sehr verschiedene Winkelstellungen gegen einander
einnehmen können. Ein bestimmtes Stehen dieser Art ist immer
nur vorübergehend zu behaupten, da die Muskeln bald ermüden.
Auf diese Stehweisen, als nichtnatürliche, gehen wir nicht
näher ein.
2) Gewisse Gelenke werden durch
anderweitige Mittel als durch Muskelkraft im Maximo ihrer Streckung,
also in einer einzigen, ganz bestimmten und längere Zeit
zu behauptenden, Stellung erhalten (Ed. Weber). Diess geschieht
durch Verlegung des Rumpfschwerpunktes etwas ausserhalb der senkrechten
Ebene, in der die Drehaxe des betreffenden Gelenkes liegt und
zwar in der Richtung der Streckbewegung des lezteren. Dadurch
bilden zwei, sonst beweglich an einander stoßende. Abtheilungen
eine steife Verbindung. Alle Beingelenke sind beim Stehen auf
diese Art gesteift, mit Ausnahme des ersten Fußgelenkes;
der Rumpf und das steife, stehende Bein balanciren dem nach auf
dem Astragalus.
Zur Ermittelung der Stabilitätsgrade
der verschiedenen Stehweisen bedient sich Vierordt eines einfachen
graphischen Verfahrens. Der auf dem Rumpf unbeweglich gehaltene
Kopf trägt auf dem Scheitel einen senkrechten Pinsel, welcher
auf einer, über dem Kopf horizontal befestigten, berußten
Glasplatte, den Körperschwankungen entsprechend, nach einer
bestimmten Zeit eine Figur von gewisser Form und Größe
aufzeichnet. Vorrichtungen zur Selbstregistrirung der einzelnen
Schwankungen wären für ein genaueres Eindringen in die
Physiologie des Stehens unerlässlich.
Die labile Aufstellung, des
gesteiften Beines auf dem AstragaIus ist kein Nachtheil, wie man
gewöhnlich annimmt (und desshalb auf Mittel sinnt, wie auch
dieses Gelenk möglichst steif gemacht werden könne!),
sondern ein wesentlicher Vortheil für das Stehen, aber nur
unter der Bedingung, dass Einrichtungen vorhanden sind, die uns
nicht nur benachrichtigen, wenn das G1eichgewicht anfängt
verloren zu gehen, sondern auch gestatten, das verlorene Gleichgewicht
mit geringster Anwendung von Muskelkräften sog1eich wieder
herzustellen (Vierordt). Die Benachrichtigungsmittel sind folgende:
1) Muske1gef üh1e. Wird sind
uns der Lagen unserer Körpertheile genau bewusst vermöge
der durch die Muskeln vermittelten Gemeingefühle. Unser Urtheil
hierüber ist aber gerade beim Stehen so außerordentlich
begünstigt, weil sämtliche Körpertheile, bei ihrem
Balancement auf dem Astragalus übereinstimmende, d. h. concentrische
passive Bewegungen vollführen und somit harmonirende, gewissermaßen
durch die Multiplication deutlicher werdende Muskelgefühle
veranlassen. Diese letzeren belehren uns augenblicklich über
das verloren gehende Gleichgewicht und sind um so feiner, je weniger
die Muskeln angestrengt werden.
Diese Gefühle, die auch Gefühle
des Gleichgewichts und des gestörten Gleichgewichtes genannt
werden können, sind specifischer Natur, wie so viele andere
Muskelgefühle. In vielen kranken, so wie speciell bei Krankheiten
der Nervencentren, zeigen sie die mannigfaltigsten Abnormitäten,
zusammengefasst unter dem Trivialnamen: Schwindel. Daher die Unsicherheit
des Gehens und selbst Stehens in solchen Fällen.
2) Drucksinn und Ortssinn der Sohlenhant.
Bei Veränderungen des Gleichgewichts werden verschiedene
Stellen der Sohlenhaut und zwar mit verschiedenen Belastungen
gedrückt. Der Druck nimmt zu an diesen, und gleichzeitig
ab an jenen Stellen der Haut derselben Sohle, so wie er beim ungleichmäßigen
Stehen auf beiden Füßen bald mehr die Sohle des rechten,
bald mehr die des linken Füsses trifft. Die Wölbung
der Sohle, d. h. das Aufstehen derselben nur mit bestimmten Stellen
(Fersbein, Köpfchen des 1. und 5. Mittelfüssknochens)
begünstigt die Schärfe der Empfindungen auf der Sohlenhaut.
3) Gesichtssinn. Fixiren wir einen
ruhenden Gegenstand, so werden wir von Schwankungen unseres Körpers
sogleich benachrichtigt, indem wir die Lageveränderungen
des fixirten Objectes gegen den Hintergrund wahrnehmen.
Wird der Tastsinn der Sohlenhaut
durch ein Lokalbad von kaltem Wasser gemindert, so nehmen die
Körperschwankungen erheblich zu (Heyd). Die Leistungen des
Sehsinnes für die Erkenntnisse des verloren gehenden Gleichgewichts
sind sehr viel geringer, als die der zwei erstgenannten Hülfsmittel.
Wir können ja auch im Dunkel oder bei geschlossenen Augen
sicher stehen, jedoch mit etwas größeren Körperschwankungen
als bei offenen Augen. Beim Stehen ausschließlich auf einem
Fuß greift aber dieser Hülfsmittel viel merklicher
ein. Geradezu unentbehrlich endlich ist das Auge für das
Stehen und Gehen in höheren Graden der als Tabes dorsalis
bezeichneten Rückenmarksleiden.
Dasselbe verlangt, wie erörtert,
eine Steifung des die Körperlast tragenden Beines im Knie-
und Hüftgelenk ohne, Anwendung von Muskelkraft. Die hieher
gehörigen mannigfaltigen Stehweisen können wir in 2
Gruppen theilen:
1)Vorzugsweises Stehen auf einem
Bein. (Position hanchée; die deutsche Sprache hat für
diese gewöhnlichste aller Stehweisen keine Bezeichnung.)
Das die Körperlast ausschließlich tragende Bein ist
gestreckt und der gemeinsame Schwerpunkt des Körpers senkrecht
(so nehmen wir vorläufig an) über dem Fußgelenk
dieses Beines, also der Rumpf etwas nach dieser Seite geneigt.
Das andere Bein wird leicht auf den Boden gesetzt und zwar am
besten vor das stüzende Bein : außerdem ist es schwach
gebeugt im Knie- und Hüftgelenk. Es trägt demnach die
Körperlast nicht. Der Körperschwerpunkt wird aus der
oben bezeichneten Lage um ein Minimum in der Richtung gegen das
schwach aufgesetzte Bein verlegt; leise Streckungen des lezteren
im Knie stellen die Gleichgewichtslage, wenn sie gestört
wird, sogleich wieder her.
Die Hauptarten dieses Stehens, auf die wir nicht näher eingehen,
werden bestimmt 1) von dem Winkel, welchen die Längsaxen
beider Fußsohlen zwischen sich einschließen, und 2)
vom Abstande beider Beine. Die Nuër am Gazellenfluss stehen,
wie die Sumpfvögel, nach Schweinfurth stundenlang bewegungslos
auf einem Bein, während sie die Sohle des anderen auf das
Knie stüzen. Ihre G1iedmaassen sind auffallend lang und dünn.
2) Gleichmäßiges Stehen
auf beiden Beinen. Die symmetrischen Theile des Körpers liegen
hier gleichweit ab von der senkrechten Medianebene, welche den
Körper in eine rechte und linke Hälfte theilt. Diese
Stehweisen können somit auch symmetrische, im Gegensaz zu
den asymmetrischen der ersten Gruppe, genannt werden. Von den
manchfachen hier möglichen Anordnungen (die namentlich von
der Größe der Spreizung der Beine und des von den beiden
Fußsohlen eingeschlossenen Winkels abhängen) soll nur
das Prototyp hervorgehoben werden: die steife, "militärische"
Stellung. Dieses Stehen verlangt gleichmäßiges Aufstehen
beider Fußsohlen auf dem Boden; gleichmäßige
Vertheilung der Körperlast auf beide, in ihren Hüft-
und Kniegelenken in starre Stüzen verwandelten, Beine; senkrechte
Lage des Schwerpunkts des Körpers über dem von beiden
Füßen begrenzten Theil des Bodens.
Die beste Aufrechtstellung ist
diejenige, bei welcher 1) Knie und Hüfte des stüzenden
Beines im Maximo der Steifung verharren; 2) eine möglichst
geringe Muskelanstrengung beansprucht wird und 3) wir über
das verloren gehende Gleichgewicht sogleich benachrichtigt werden,
indem die oben erwähnten Aequilibrirungsgefühle unter
die günstigsten Nebenbedingungen gestellt sind; und wenn
4) das Gleichgewicht schnellstens und mit kleinstem Kraftaufwand
wieder gewonnen werden kann. Diese Stehweise muss demnach die
sicherste (die kleinsten Körperachwankungen zeigende) die
am längsten zu behauptende und (weil mit geringster Ermüdung
verbunden) die von den Menschen allgemein und unwillkürlich
gewählte sein. Alle diese Anforderungen erfüllt das
vorzugsweise Stehen auf einem Bein sehr viel mehr als das symmetrische
Stehen. Die hauptsächlichsten Vortheile der position hanchée
sind:
1) Größere Steifung in
Knie und Hüfte des stüzenden Beins, verursacht durch
den Druck des Rumpfgewichts ausschließlich auf dieses Bein.
Beide Gelenke sind nahezu oder völlig im Maximo der Streckung.
2) Bei der symmetrischen Stellung
wird das Vorwärtsfallen der Unterschenkel namentlich durch
die Wadenmuskeln verhütet, wobei zugleich, da diese die Kniee
beugen würden, die Kniestrecker wirken müssen. Bei der
unsymmetrischen Stellung aber sind die Wadenmuskeln des tragenden
Beines viel weniger, die des leicht aufgesezten gar nicht, angestrengt,
da a) das zweite Bein etwas vorgesezt wird und somit das Vorwärtsfallen
sogleich hemmt, und b) die Aktion des zweiten Beines bloß
in ganz schwacher Zusammenziehung der Kniestrecker besteht.
3) Bei der symmetrischen Stellung
sind die Angriffspunkte der Muskeln (Wadenmuskeln), welche das
Vorwärtsfallen des Körpers aufhalten, dem Fußgelenke
verhältnismäßig nahe. Die asymmetrische Stellung
aber bietet den großen Vortheil, dass das zweite Bein, wenn
es sich im Knie streckt, um den nach vorn überfallenden Körper
zurückzuführen, seinen Angriffspunkt hoch oben (im Hüftgelenk)
hat, d. h. weit entfernt vom Fußgelenk, sodass die, das
verlorene Gleichgewicht herstellende, Muskelthätigkeit unter
sehr viel günstigeren Hebelverhältnissen wirkt.
4) Bei der asymmetrischen Stellung
übt das den Körper nicht tragende Bein nur einen sehr
geringen Druck auf den Boden; denn beim Beginne des Ueberfallens
den Körpers vermag ein Druck von bloß 6-8 Kilogrammen
auf den Boden die Gleichgewichtslage wieder herzustellen (Vierordt).
DiesesBein kann also auf den Boden drücken mit einem Gewicht,
das geringer ist als sein eigenes; mit anderen Worten: die das
verlorene Gleichgewicht wiederherstellende Muskulatur (Kniestrecker)
arbeitet unter fast vollständiger Entlastung, die Wadenmuskulatur
beim symmetrischen Stehen dagegen bei viel stärkerer Belastung.
5) Beim unsymmetrischen Stehen ist
das Druckgefühl der Sohlenhaut des nichttragenden Beines
in entschiedenstem Vortheil.
Da (nach 4) der Druck dieses Beines auf den Boden höschst
gering ist, so wird or beim leisesten Ueberfallen relativ bedeutend
vermehrt, was nicht der Fall sein kann beim symmetrischen Stehen.
Da wir, nach E. H. Weber, schon Druckunterschiede von 1/40 wahrnehmen
(335), so muss bereits ein kaum beginnendes Ueberfallen des Körpers
von der Sohlenhaut des nichttragenden Beines empfunden werden.
6) Die Aequilibrirungsgefühle
der Muskeln sind beim unsymmetrischen Stehen begünstigt,
weil die Muskeln viel weniger angestrengt sind.
7) Die Körperschwankungen sind
viel geringer beim asymmetrischen Stehen.
Bei folgende Figuren geben Proben
der, am Scheitel gemessenen, Schwankungen bei den verschiedenen
Stellungen u. s. w., nach der 501, Anmerkung, angegebenen Methode.
Das * bezeichnet die Anfangsstellung des Pinsels. Die Versuchszeit
betrug immer 3 Minuten; bei Verlängerung derselben würden
die Vorzüge der asymmetrischen Stellungen noch mehr hervortreten.
Figur 155. a: militärische Stellung; a': ebenso, aber mit geschlossenen Augen; b: position hanchée (das rechte Bein ist das tragende); . c: Sizen; c': Sizen bei geschlossenen Augen; d: Stehen auf einem (rechten) Fuß.