GRUNDRISS
DER
PHYSIOLOGIE DES MENSCHEN
Von
KARL VIERORDT
Fünfte Auflage
H. Lauppschen
Tübingen, 1877

XXIII. Stehen und Orstbewegungen


B. Stehen.

500. Schwerpunkt des Körpers.

     Die Lage des Schwerpunktes ist von großer Wichtigkeit beim Stehen und Gehen. Die Höhe des Schwerpunktes des ganzen Körpers bestimmte schon Borelli durch das Aequilibriren des auf ein Brett gelegten Körpers auf einer wagrechten Kante (Fig. 154). Ed. Weber verschob, nachdem der Schwerpunkt des Brettes bestimmt war, die Versuchsperson so lang auf dem Brett, bis Gleichgewicht hergestellt war. Der Schwerpunkt liegt in der Senkrechten sw, die durch das Promontorium geht. Durch ein ähnliches Verfahren wurde am Leichnam , nach ausgeschälten Beinen , die Höhe des Rumpfschwerpunkts bestimmt; derselbe fällt in eine durch das untere Ende des Brustbeines oder durch den Schwertfortsaz gegen die Wirbelsäule gezogene Ebene (sie heiße a Ebene); der Rumpfschwerpunkt liegt somit hoch über der gemeinschaftlichen Drehungsaxe der Schenkelköpfe. Nimmt man nun an, das beim aufrechten (militärischen, s. 503) Stehen der Rumpf auf beiden Schenkelköpfen balancirt. so muss der Rumpfschwerpunkt (nahe) in derjenigen Ebene (b Ebene) liegen, die senkrecht durch die Centren beider Schenkelköpfe geht; diesen Centren entspricht der vordere Rand der großen Trochanteren. Die b Ebene wird näherungsweise bestimmt, wenn man neben einem Aufrechtstehenden beiderseits zwei Bleilothe aufhängt in der senkrechten Ebene, in der die beiden gennanten Trochanterränder liegen. Diese b Ebene durchschneidet die Zizenfortsäze der Schläfenbeine. Zieht man in b Ebene eine Senkrechte, von welcher die symmetrischen Theile des Körpers links und rechts gleich weit abstehen, so trifft diese Senkrechte die a Ebene in einem Punkt: dem Schwerpunkt des Rumpfes. Dieser läge somit zwischen Schwertfortsaz und 8. Brustwirbel, etwa 5 Centimeter von lezterem entfernt (Ed. Weber).


501. Steifung des Beines.


     Beim Stehen handelt es sich vor Allem um Festigkeit (möglichst geringe Körperschwankungen), Ausdauer und Bequemlichkeit der Stellung. Diejenigen unter den sehr mannigfaltigen Steharten sind die zweckmäßigeren, welche. diese Aufgaben am besten erfüllen. Die Grundbedingung des Tragens der Körperlast durch das Bein ist Umwandlung desselben in eine steife Stüze, wobei zugleich der Schwerpunkt des Körpers annähernd senkrecht über dem Fußgelenk liegt. Die Steifung ist in zweierlei Weise herstellbar:
     1) Die beweglichen Abtheilungen des Beines werden durch Muskelthätigkeit steif gehalten, wobei dieselben sehr verschiedene Winkelstellungen gegen einander einnehmen können. Ein bestimmtes Stehen dieser Art ist immer nur vorübergehend zu behaupten, da die Muskeln bald ermüden. Auf diese Stehweisen, als nichtnatürliche, gehen wir nicht näher ein.
     2) Gewisse Gelenke werden durch anderweitige Mittel als durch Muskelkraft im Maximo ihrer Streckung, also in einer einzigen, ganz bestimmten und längere Zeit zu behauptenden, Stellung erhalten (Ed. Weber). Diess geschieht durch Verlegung des Rumpfschwerpunktes etwas ausserhalb der senkrechten Ebene, in der die Drehaxe des betreffenden Gelenkes liegt und zwar in der Richtung der Streckbewegung des lezteren. Dadurch bilden zwei, sonst beweglich an einander stoßende. Abtheilungen eine steife Verbindung. Alle Beingelenke sind beim Stehen auf diese Art gesteift, mit Ausnahme des ersten Fußgelenkes; der Rumpf und das steife, stehende Bein balanciren dem nach auf dem Astragalus.
     Zur Ermittelung der Stabilitätsgrade der verschiedenen Stehweisen bedient sich Vierordt eines einfachen graphischen Verfahrens. Der auf dem Rumpf unbeweglich gehaltene Kopf trägt auf dem Scheitel einen senkrechten Pinsel, welcher auf einer, über dem Kopf horizontal befestigten, berußten Glasplatte, den Körperschwankungen entsprechend, nach einer bestimmten Zeit eine Figur von gewisser Form und Größe aufzeichnet. Vorrichtungen zur Selbstregistrirung der einzelnen Schwankungen wären für ein genaueres Eindringen in die Physiologie des Stehens unerlässlich.


502, Balancirung des Beines.


     Die labile Aufstellung, des gesteiften Beines auf dem AstragaIus ist kein Nachtheil, wie man gewöhnlich annimmt (und desshalb auf Mittel sinnt, wie auch dieses Gelenk möglichst steif gemacht werden könne!), sondern ein wesentlicher Vortheil für das Stehen, aber nur unter der Bedingung, dass Einrichtungen vorhanden sind, die uns nicht nur benachrichtigen, wenn das G1eichgewicht anfängt verloren zu gehen, sondern auch gestatten, das verlorene Gleichgewicht mit geringster Anwendung von Muskelkräften sog1eich wieder herzustellen (Vierordt). Die Benachrichtigungsmittel sind folgende:
     1) Muske1gef üh1e. Wird sind uns der Lagen unserer Körpertheile genau bewusst vermöge der durch die Muskeln vermittelten Gemeingefühle. Unser Urtheil hierüber ist aber gerade beim Stehen so außerordentlich begünstigt, weil sämtliche Körpertheile, bei ihrem Balancement auf dem Astragalus übereinstimmende, d. h. concentrische passive Bewegungen vollführen und somit harmonirende, gewissermaßen durch die Multiplication deutlicher werdende Muskelgefühle veranlassen. Diese letzeren belehren uns augenblicklich über das verloren gehende Gleichgewicht und sind um so feiner, je weniger die Muskeln angestrengt werden.
     Diese Gefühle, die auch Gefühle des Gleichgewichts und des gestörten Gleichgewichtes genannt werden können, sind specifischer Natur, wie so viele andere Muskelgefühle. In vielen kranken, so wie speciell bei Krankheiten der Nervencentren, zeigen sie die mannigfaltigsten Abnormitäten, zusammengefasst unter dem Trivialnamen: Schwindel. Daher die Unsicherheit des Gehens und selbst Stehens in solchen Fällen.
     2) Drucksinn und Ortssinn der Sohlenhant. Bei Veränderungen des Gleichgewichts werden verschiedene Stellen der Sohlenhaut und zwar mit verschiedenen Belastungen gedrückt. Der Druck nimmt zu an diesen, und gleichzeitig ab an jenen Stellen der Haut derselben Sohle, so wie er beim ungleichmäßigen Stehen auf beiden Füßen bald mehr die Sohle des rechten, bald mehr die des linken Füsses trifft. Die Wölbung der Sohle, d. h. das Aufstehen derselben nur mit bestimmten Stellen (Fersbein, Köpfchen des 1. und 5. Mittelfüssknochens) begünstigt die Schärfe der Empfindungen auf der Sohlenhaut.
     3) Gesichtssinn. Fixiren wir einen ruhenden Gegenstand, so werden wir von Schwankungen unseres Körpers sogleich benachrichtigt, indem wir die Lageveränderungen des fixirten Objectes gegen den Hintergrund wahrnehmen.
     Wird der Tastsinn der Sohlenhaut durch ein Lokalbad von kaltem Wasser gemindert, so nehmen die Körperschwankungen erheblich zu (Heyd). Die Leistungen des Sehsinnes für die Erkenntnisse des verloren gehenden Gleichgewichts sind sehr viel geringer, als die der zwei erstgenannten Hülfsmittel. Wir können ja auch im Dunkel oder bei geschlossenen Augen sicher stehen, jedoch mit etwas größeren Körperschwankungen als bei offenen Augen. Beim Stehen ausschließlich auf einem Fuß greift aber dieser Hülfsmittel viel merklicher ein. Geradezu unentbehrlich endlich ist das Auge für das Stehen und Gehen in höheren Graden der als Tabes dorsalis bezeichneten Rückenmarksleiden.


503. Aufrechtes Stehen.


     Dasselbe verlangt, wie erörtert, eine Steifung des die Körperlast tragenden Beines im Knie- und Hüftgelenk ohne, Anwendung von Muskelkraft. Die hieher gehörigen mannigfaltigen Stehweisen können wir in 2 Gruppen theilen:
     1)Vorzugsweises Stehen auf einem Bein. (Position hanchée; die deutsche Sprache hat für diese gewöhnlichste aller Stehweisen keine Bezeichnung.)
Das die Körperlast ausschließlich tragende Bein ist gestreckt und der gemeinsame Schwerpunkt des Körpers senkrecht (so nehmen wir vorläufig an) über dem Fußgelenk dieses Beines, also der Rumpf etwas nach dieser Seite geneigt. Das andere Bein wird leicht auf den Boden gesetzt und zwar am besten vor das stüzende Bein : außerdem ist es schwach gebeugt im Knie- und Hüftgelenk. Es trägt demnach die Körperlast nicht. Der Körperschwerpunkt wird aus der oben bezeichneten Lage um ein Minimum in der Richtung gegen das schwach aufgesetzte Bein verlegt; leise Streckungen des lezteren im Knie stellen die Gleichgewichtslage, wenn sie gestört wird, sogleich wieder her.
Die Hauptarten dieses Stehens, auf die wir nicht näher eingehen, werden bestimmt 1) von dem Winkel, welchen die Längsaxen beider Fußsohlen zwischen sich einschließen, und 2) vom Abstande beider Beine. Die Nuër am Gazellenfluss stehen, wie die Sumpfvögel, nach Schweinfurth stundenlang bewegungslos auf einem Bein, während sie die Sohle des anderen auf das Knie stüzen. Ihre G1iedmaassen sind auffallend lang und dünn.
     2) Gleichmäßiges Stehen auf beiden Beinen. Die symmetrischen Theile des Körpers liegen hier gleichweit ab von der senkrechten Medianebene, welche den Körper in eine rechte und linke Hälfte theilt. Diese Stehweisen können somit auch symmetrische, im Gegensaz zu den asymmetrischen der ersten Gruppe, genannt werden. Von den manchfachen hier möglichen Anordnungen (die namentlich von der Größe der Spreizung der Beine und des von den beiden Fußsohlen eingeschlossenen Winkels abhängen) soll nur das Prototyp hervorgehoben werden: die steife, "militärische" Stellung. Dieses Stehen verlangt gleichmäßiges Aufstehen beider Fußsohlen auf dem Boden; gleichmäßige Vertheilung der Körperlast auf beide, in ihren Hüft- und Kniegelenken in starre Stüzen verwandelten, Beine; senkrechte Lage des Schwerpunkts des Körpers über dem von beiden Füßen begrenzten Theil des Bodens.


504. Natürliche Stehweise.


     Die beste Aufrechtstellung ist diejenige, bei welcher 1) Knie und Hüfte des stüzenden Beines im Maximo der Steifung verharren; 2) eine möglichst geringe Muskelanstrengung beansprucht wird und 3) wir über das verloren gehende Gleichgewicht sogleich benachrichtigt werden, indem die oben erwähnten Aequilibrirungsgefühle unter die günstigsten Nebenbedingungen gestellt sind; und wenn 4) das Gleichgewicht schnellstens und mit kleinstem Kraftaufwand wieder gewonnen werden kann. Diese Stehweise muss demnach die sicherste (die kleinsten Körperachwankungen zeigende) die am längsten zu behauptende und (weil mit geringster Ermüdung verbunden) die von den Menschen allgemein und unwillkürlich gewählte sein. Alle diese Anforderungen erfüllt das vorzugsweise Stehen auf einem Bein sehr viel mehr als das symmetrische Stehen. Die hauptsächlichsten Vortheile der position hanchée sind:
     1) Größere Steifung in Knie und Hüfte des stüzenden Beins, verursacht durch den Druck des Rumpfgewichts ausschließlich auf dieses Bein. Beide Gelenke sind nahezu oder völlig im Maximo der Streckung.
     2) Bei der symmetrischen Stellung wird das Vorwärtsfallen der Unterschenkel namentlich durch die Wadenmuskeln verhütet, wobei zugleich, da diese die Kniee beugen würden, die Kniestrecker wirken müssen. Bei der unsymmetrischen Stellung aber sind die Wadenmuskeln des tragenden Beines viel weniger, die des leicht aufgesezten gar nicht, angestrengt, da a) das zweite Bein etwas vorgesezt wird und somit das Vorwärtsfallen sogleich hemmt, und b) die Aktion des zweiten Beines bloß in ganz schwacher Zusammenziehung der Kniestrecker besteht.
     3) Bei der symmetrischen Stellung sind die Angriffspunkte der Muskeln (Wadenmuskeln), welche das Vorwärtsfallen des Körpers aufhalten, dem Fußgelenke verhältnismäßig nahe. Die asymmetrische Stellung aber bietet den großen Vortheil, dass das zweite Bein, wenn es sich im Knie streckt, um den nach vorn überfallenden Körper zurückzuführen, seinen Angriffspunkt hoch oben (im Hüftgelenk) hat, d. h. weit entfernt vom Fußgelenk, sodass die, das verlorene Gleichgewicht herstellende, Muskelthätigkeit unter sehr viel günstigeren Hebelverhältnissen wirkt.
     4) Bei der asymmetrischen Stellung übt das den Körper nicht tragende Bein nur einen sehr geringen Druck auf den Boden; denn beim Beginne des Ueberfallens den Körpers vermag ein Druck von bloß 6-8 Kilogrammen auf den Boden die Gleichgewichtslage wieder herzustellen (Vierordt). DiesesBein kann also auf den Boden drücken mit einem Gewicht, das geringer ist als sein eigenes; mit anderen Worten: die das verlorene Gleichgewicht wiederherstellende Muskulatur (Kniestrecker) arbeitet unter fast vollständiger Entlastung, die Wadenmuskulatur beim symmetrischen Stehen dagegen bei viel stärkerer Belastung.
     5) Beim unsymmetrischen Stehen ist das Druckgefühl der Sohlenhaut des nichttragenden Beines in entschiedenstem Vortheil.
Da (nach 4) der Druck dieses Beines auf den Boden höschst gering ist, so wird or beim leisesten Ueberfallen relativ bedeutend vermehrt, was nicht der Fall sein kann beim symmetrischen Stehen. Da wir, nach E. H. Weber, schon Druckunterschiede von 1/40 wahrnehmen (335), so muss bereits ein kaum beginnendes Ueberfallen des Körpers von der Sohlenhaut des nichttragenden Beines empfunden werden.
     6) Die Aequilibrirungsgefühle der Muskeln sind beim unsymmetrischen Stehen begünstigt, weil die Muskeln viel weniger angestrengt sind.
     7) Die Körperschwankungen sind viel geringer beim asymmetrischen Stehen.
     Bei folgende Figuren geben Proben der, am Scheitel gemessenen, Schwankungen bei den verschiedenen Stellungen u. s. w., nach der 501, Anmerkung, angegebenen Methode. Das * bezeichnet die Anfangsstellung des Pinsels. Die Versuchszeit betrug immer 3 Minuten; bei Verlängerung derselben würden die Vorzüge der asymmetrischen Stellungen noch mehr hervortreten.


(Figur 155)

Figur 155. a: militärische Stellung; a': ebenso, aber mit geschlossenen Augen; b: position hanchée (das rechte Bein ist das tragende); . c: Sizen; c': Sizen bei geschlossenen Augen; d: Stehen auf einem (rechten) Fuß.